„Ich werde die anderen vermissen. Wir sind als Gruppe so zusammengewachsen!“ sagte Giuliana, 18 Jahre. Sie ist eine von insgesamt acht Jugendlichen, die bei einer gemeinsamen Wanderung in nur fünf Tagen den Harz überquerten. Auf ihrer Wanderung von Osterode bis nach Thale bewältigten die Teilnehmenden rund 100 km Wegstrecke, diverse Höhenmeter, gefährliche Passagen und Zweifel, ob sie es überhaupt schaffen werden. Das Projekt „Über den Berg“ vom AWO Bezirksverband Braunschweig e. V. fand vom 18. bis 22. März während der Osterferien statt, begleitet von zwei Pädagoginnen. Die Jugendlichen im Alter von 12 bis 18 Jahren stammen aus verschiedenen Wohngruppen der AWO Jugend- und Erziehungshilfen.
Die Jugendlichen der Wohngruppen benötigen Erziehungshilfen und intensive Förderung. Viele können sich den gesellschaftlichen Anforderungen nicht so gut anpassen. Besonders geeignet sind daher sportliche Herausforderungen, denn durch sie treten die Jugendlichen einzeln oder in der Gruppe in Kontakt. Die AWO setzte bei ihrer Challenge darauf, die Jugendlichen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Dabei waren Naturerfahrung, Bewegung und Gruppenerfahrung die Bausteine. Naturerfahrung und verbessertes Selbstwertgefühl, so die Projektbeschreibung, ständen in einer Wechselbeziehung. Basis des Projekts sei jedoch die Bewegung, die sich positiv auf Körper und Seele auswirke. Das Wandern auf dem Hexenstieg ermögliche den Jugendlichen in Form der sportlichen Herausforderung Selbstwirksamkeitserfahrung in besonderem Maße. Den dritten Baustein bilde die Gruppenerfahrung, die gegenseitige Rücksicht und soziales Lernen fördern könne. Mehr Aktion! überzeugte der pädagogische Ansatz des AWO Bezirksverbands Braunschweig e. V. und stellte daher finanzielle Mittel dafür bereit.
Die Aktion der AWO bringt auf den Punkt, worum es geht: Der Berg als Metapher bietet eine Fülle von Analogien, die sich auf die alltäglichen Herausforderungen übertragen lassen. Wanderungen sind anstrengend, es ist steil, man kommt nur langsam vorwärts. Oben kann es gefährliche Passagen geben. Man verlässt die gewohnte Umgebung und begibt sich ins Risiko. Das Ziel, der Gipfel, ist immer im Blickfeld und oben angekommen wird man mit einer gigantischen Aussicht belohnt. Genau diese Metapher haben die Jugendlichen bei der Harzüberquerung direkt erfahren: seine Grenzen austesten, sich selbstwirksam empfinden und in der gemeinsamen Herausforderung zusammenwachsen.
„Ich weiß nicht, warum ich mir das antue, aber ich zieh das jetzt durch!“, ermutigte sich Teilnehmerin Sam, 16 Jahre. Bei der Harzüberquerung sind alle an ihre Grenzen gekommen. „Mir tut alles weh, aber scheiß drauf. Das ist es wert!“, bemerkt Jonas, 18 Jahre. Unterwegs gab es viel Schweiß, Tränen, Flüche und etliche zu verarztende Blasen an den Füßen – aber trotz der Strapazen standen die Jugendlichen jeden Morgen bereit, um die nächste Etappe zu meistern. Das gemeinsame Erleben hat die Gruppe mehr und mehr zusammengeschweißt. Die Jungen und Mädchen haben sich gegenseitig geholfen, z. B. indem sie den Rucksack vom anderen tragen, ein offenes Ohr füreinander haben oder sich Mut zusprechen. „Es ist so krass, was ihr geleistet habt“, lobt Yvonne Helmer, Abteilungsleiterin ambulante Familienarbeit, „vor allem, wenn man bedenkt, dass sonst schon der Weg zum Bus manchmal zu weit ist.“