Im Autismus-Zentrum Hannover (AZH) hängt eine sonderbare Uhr. Sie umfasst jeweils 60 Minuten. Am Anfang einer Stunde ist das ganze runde Feld rot, mit den ablaufenden Minuten wird das rote Feld für die verbleibende Zeit immer ein Stück kleiner. Es ist also keine normale Uhr, sondern ein Timer, der die Zeit sichtbar macht, die von einer Stunde noch zur Verfügung steht.
Von Montag bis Freitag hilft dieser Timer autistischen Kindern zeitliche Abläufe besser zu verstehen. Er steht stellver- tretend für Strukturen, die von außen immer wieder neu gesetzt werden
und mit denen sich das autistische Kind innerhalb der vielen Umweltreize orientiert. Denn Orientierungslosigkeit bedeutet für sie Chaos und Stress.
An einem Wochenende im Jahr jedoch steht dieser Timer, sowie Zeit und Raum im AZH Mädchen und Jungen zur Verfügung, die zwar ziemlich gut wissen, was Autismus bedeutet, jedoch nicht selbst autistisch sind. Es sind die Geschwister von autistischen Kindern.
Autismus ist eine Störung der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf das Verhalten und den Umgang mit anderen auswirkt. Für die Familien der Betroffenen ist es nicht leicht, mit der Situation zu leben. Weil ein autistisches Kind viel Unterstützung braucht und die Aufmerksamkeit der Angehörigen natürlicherweise stark auf diesem Kind ruht, müssen weitere Kin- der in der Familie häu g zurückstecken und sich anpassen.
Geschwister von autistischen Kindern wachsen in diese Situation wie selbstverständlich hinein, sie kennen es nicht anders. Aber sie haben dadurch oft selbst Schwierigkeiten, werden von anderen Kindern ausgegrenzt, erleiden und fühlen die Aggressionen des autistischen Bruders oder der autistischen Schwester. Manche entwickeln selbst Aufmerksamkeitsde zite oder eine Hyperaktivität.
Doch haben diese Geschwister auch besondere emotional-soziale Kompetenzen. Sie sind oft geduldiger als andere, können Einiges aushalten und vorausdenken. Viele haben ein hohes Einfühlungsvermögen, eine große Geschwisterliebe und eine besondere Hilfsbereitschaft.
Seminar im Autismus-Zentrum
Diplom Sozialpädagogin Birte Müller arbeitet regulär mit autistischen Kindern und bietet darüber hinaus zusammen mit zwei Kolleginnen seit vielen Jahren im AZH Seminarwochenenden gerade für die oft zu kurz gekommenen Geschwister autistischer Kinder an. In den Seminaren werden die Geschwister mit unterschiedlichen kreativen Materialien angeregt, sich selbst mit ihrer ganz individuellen Persönlichkeit wahrzunehmen und den Wert ihrer Kompetenzen zu entdecken. Während des Seminars erfahren sie auch mehr über das Autismus-Zentrum selbst und kommen ins Gespräch. Dies geschieht vielfach spielerisch und fast nebenbei. So taucht bei einer Rallye über das Gelände die merkwürdige Uhr wieder auf. Und schon wird dieser Anlass von den Kindern selbst genutzt von ihren autistischen Geschwistern zu erzählen und spezielle Fragen zu stellen.
Bei den Mädchen und Jungen kommt das Seminar gut an. In diesem Jahr war die Hälfte der Kinder schon zum zweiten Mal dabei. „Unsere Erfahrung ist, dass ein Seminarwochenende im Jahr nicht ausreicht“, berichtet Birte Müller. „Von den Kindern hören wir immer wieder, dass sie Themen und Beziehungen, die während der Seminare entstanden sind, vertiefen wollen. Zudem würden wir gern auch Geschwister erreichen, denen ein ganzes Wochenende zu lang ist.“ Auch die Eltern möchten die Fachfrauen vermehrt an dem Prozess der Geschwister beteiligen. Mehr Aktion! unterstützt dieses Vorhaben gern.